Dass es sich bei Stadtentwicklung lohnen kann, auch auf andere Städte zu schauen und vorbildliche Beispiele aufzuzeigen, ist meines Erachtens immer ein guter Schritt in die richtige Richtung. Gleichzeitig greift dieser Artikel zehn schnell umsetzbare Beispiele für mehr Natur, Nachbarschaft und Spaß auf. Zehn gelungene Architekturbeispiele, die kürzlich beim Echtzeit-Archtiekturfestival 72 Hour Urban Action in Jena entstanden sind.
In der thüringischen Stadt Jena haben anlässlich des 100jährigen Bauhaus-Jubiläums urbane Aktivisten beim Wettbewerb “72 Hour Urban Action” gemeinsam mit Bewohnern drei Tage lang Architekturkonzepte für den öffentlichen Raum konzipiert und umgesetzt. Was bleibt? Neben Bühnen, Beeten und Begegnungsstätten vor allem das Gefühl, selbst Einfluss auf Lebensorte nehmen zu können und das in enger Zusammenarbeit mit der städtischen Verwaltung. Nachfolgend präsentieren wir die zehn Bauorte in Jenas Plattenbauviertel Lobeda – und welche baulichen Vorschläge die zehn Teams erarbeitet haben.
Was ist 72 Hour Urban Action Lobeda?
72 Hour Urban Action Lobeda ist der erste Echtzeit-Architekturwettbewerb, bei dem internationale Experten gemeinsam mit Anwohnern zusammenarbeiten. 72HUA ermöglicht es, durch Schnelligkeit und gemeinsames Anpacken das Stadtbild zu verändern. 2010 wurde das Design- und Architekturfestival von Kuratorin Gilly Karjevsky und dem Architekten Kerem Halbrecht in Israel ins Leben gerufen. Seitdem veranstaltet 72HUA jährlich internationale Projekte. Lokale Probleme und Potenziale werden aufgespürt und schnelle, alternative Ideen angeboten. Der Wettbewerb bietet die Möglichkeit, die Wahrnehmung des öffentlichen Raums neu auszurichten.
Vorgängerprojekte in Stuttgart, Italien oder Dänemark in den vergangenen zehn Jahren haben gezeigt, dass die entworfenen Bauwerke einen sofortigen Nutzen für die Bewohner bringen und noch heute von der Nachbarschaft genutzt und gepflegt werden. Dies soll auch bei einigen der nachfolgend gezeigten Bauten der Fall sein. Sollten die entstandenen baulichen Lösungen den statischen Anforderungen gerecht werden, lassen sie sich vom temporären in einen permanenten Zustand überführen. Bis Anfang Juli kann man die Installationen auf eigene Faust oder mit geführten Touren erkunden. Zudem wird ein umfangreiches kulturelles Rahmenprogramm geboten.
BAUORT A
Team: Template
Der Ort
Eine offene Rasenfläche neben der Fernwärmestation Jena Lobedas – im Rennerdorf, dem ältesten Teil Neulobedas. Hier befinden sich die ersten Wohnblöcke der neuen Siedlung aus DDR-Zeiten.
Die Mission
Das Alles: Erschafft natürliche Infrastrukturen.
Das Ergebnis
Ein Paradies für Insekten, Kleintiere, Vögel und Fledermäuse. Und zwar für die, die auf der roten Liste in Thüringen stehen. Das Team Template hat recherchiert und herausgefunden, dass die bedrohten Arten viele Klein- und Kleinsträume brauchen und hat eben diese Strukturen nachgebaut, um sie dann unter anderem mit Totholz und geeigneten Pflanzen zu befüllen.
Die international zusammengesetzte Experten-Jury unter dem Vorsitz von Dr. Marta Doehler-Behzadi (Geschäftsführerin der IBA Thüringen) kürte diese Installation zum Thema Zukunft und Klimawandel zum Wettbewerbssieger.
BILD: A – The Everything (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT B
Team: Lobeda Comets
Der Ort
Der Bauort befindet sich in der Ecke einer Wiese mit zwei Bäumen. Eine terrassenförmige Plattform überblickt das Gelände, das einer der beliebtesten Aufenthaltsorte der Bewohner Lobedas ist. Diese Plattform ist Teil des Abstiegs von der Karl-Marx-Allee und dem Wohngebiet Neulobedas zum Saaleufer.
Die Mission
Einer für alle – Erschafft eine Bühne für soziale Spannungen.
Das Ergebnis
Das Team „Lobeda Comets“ hat die Mission wortwörtlich genommen und ein Konstrukt beziehungsweise eine Bühne gebaut, die gleichzeitig ein Begegnungsort ist. Im Kreis verbinden sich drei Ebenen: Sitzhöhe, Tischhöhe und Bühnenhöhe. Die Installation kann ganz unterschiedlich genutzt werden. Und in der Mitte ist ein Netz angebracht, das Spannungen auffangen, Menschen herunterbringen und zusammenbringen kann.
BILD: B – One for all (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT C
Team: Tangerine Dreamers
Der Ort
Der Bauort ist ein kiesbedeckter Erdstreifen zwischen zwei Baumreihen auf dem Stadtplatz Lobedas.
Die Mission
All over the Platz – Macht Komplexität sichtbar.
Das Ergebnis
Die fliegenden Teppiche: Das Team Tangerine Dreamers hat verschiedene Sitz- und Verweilstationen inklusive kleiner Kräuterstationen gebaut, um die Komplexität dieses Platzes sichtbar zu machen. Zuvor hatten die Teilnehmer viel beobachtet und geschaut: Was machen die Leute hier? Wie bewegen sie sich? Und dabei wurde festgestellt, dass die Menschen kaum verweilen, sondern den riesigen Platz nur nutzen, um durchzulaufen. Ein Paradoxon eines Platzes. Sie wünschen sich mit ihrem Projekt, dass die Menschen ihre Routine unterbrechen und auf dem hölzernen Teppich verweilen – als spannungsreiches Gegenstück zum Laufen. Das Projekt ist Sieger der Herzen Lobedas und hat den Publikumspreis gewonnen.
BILD: C – All over the Platz (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT D
Team: Happy Platte Friends
Der Ort
Der Bauort liegt neben dem Bari-Grill, einem Döner-Wagen in Lobeda und im Zentrum der Fußgängerhauptachse Stauffenbergstraße.
Die Mission
Hinter dem Eisernen Vorhang – Erschafft ein Wahrzeichen für Veränderung.
Das Ergebnis
Der Eiserne Vorhang ist als historisches und politisches Ereignis bekannt, beschreibt aber ebenfalls die graue Wand auf der Stauffenbergstraße, eine Belüftung für den darunterliegenden Parkplatz. Das Team fand heraus, dass der Imbiss das verbindende Glied dieses Ortes ist.
Dorthin kommen Menschen und sitzen auf den hinteren Bänken, essen neben dem Imbiss und die Kinder nutzen die Fläche als Spielplatz. Dieses sollte im Projetkonzept verbunden werden, indem ein Ruheort und eine Stelle zum Essen gebaut wurden. Insgesamt wurden drei Wände errichtet, von denen zwei beweglich bleiben. Sollte die Sonne blenden, lassen sich die Wände verschieben.
BILD: D – Beind the Iron Curtain (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT E
Team: Zen10
Der Ort
Der Bauort ist ein kleiner Teil eines öffentlichen Parkplatzes zwischen 11-geschossigen Wohnblöcken und dem Park auf dem Autobahntunnel.
Die Mission
Parkleben – Entdecke das Potenzial eines nachbarschaftlichen Hinterhofs.
Das Ergebnis
Relativ schnell war klar, dass auf diesen Parkplatz aus verschiedenen Perspektiven geschaut wird. Die Konzeptidee ist daher eine Interaktionsfläche für Nachbarn und für Passanten zu schaffen. Ein Treffpunkt, der mehrere Ebenen zur Kommunikation ermöglicht. Die Bauten sind daher modular, bieten verschiedene Ebenen und haben eine ästhetische Funktion.
BILD: E – Park Life (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT F
Team: Vivid/h
Der Ort
Der Bauort ist ein Schotterring mit 360-Grad-Blick auf die Autobahn, die Wohnblöcke am südlichen Rand von Lobeda und ins Saaletal.
Die Mission
Der Spiegel – Make Lärm- und Luftverschmutzung great again.
Das Ergebnis
Die Autobahn ist präsent. Man steht an diesem Ort direkt über dem Autobahntunnel. Das Konzept der Mission wurde aufgegriffen, indem es die Idee des Beobachtens aufnimmt. Die Anwohner schauen auf die Autobahn und die Autofahrer sehen auf die Haussiedlungen. Die Frage „Wer beobachtet eigentlich wen?“ stellt sich. Mit der Installation sollte diese Frage verstärkt werden. Das eingebaute Sonnensegel ermöglicht die Sicht auf alle Seiten. Das Thema Verschmutzung wurde als Soundpollution aufgegriffen, d.h. ein Geräusch- und Lärmschmutz. Der Wind trägt die Geräusche der Autobahn herüber, dieser Lärm wurde durch die Installation in ein anderes Geräusch – ein leichtes Blätterrauschen – transformiert.
BILD: F – The Mirror (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT G
Team: Te4m
Der Ort
Der Bauort: Eine Wiese neben einem Gebäude, in dem ein Studentenclub war. Der Fußgängertunnel davor ist die einzige ampelfreie Fußgänger- und Radverbindung zwischen Neulobeda-West und Neulodea-Ost.
Die Mission
Emil – Schafft einen Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Das Ergebnis
Zur Zeit der DDR beherbergte der Flachbau am Standort eine Eisdiele. 1997 übernahm ein Studentenverein die Räumlichkeiten und betrieb bis 2017 einen Studentenclub. Seitdem stand das Gebäude leer. Eine von Studierenden ins Leben gerufene Initiative will das Gebäude wiederbeleben. Der Durchfluss, der Studenten auf der einen Seite und der Anwohner auf der anderen Seite, ist groß. Die Idee: Lobeda West und Ost visuell verbinden. Auf der einen Seite gibt es eine erhöhte Aussichtsplattform, die den visuellen Zusammenhang darstellt. Auf der anderen Seite stehen hölzerne Sitzflächen, die sich auf das historische Gebäude beziehen und die Fassaden des Objekts wiederspiegeln.
BILD: G – Emil (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT H
Team: Super8
Der Ort
Der Bauort befindet sich auf einer grünen Wiese neben dem Stadtteilbüro – einer städtischen Sozialmanagement- und Koordinierungsstelle, welche auch die angrenzenden Galerieräume betreibt.
Die Mission
Alles gut – Macht aus Viel noch Mehr.
Das Ergebnis
Ein Kaleidoskop wird begehbar gemacht, das heißt Menschen werden eingeladen sich zu begegnen, gemeinsam zu spielen und sich kennenzulernen. Der Platz bekommt somit etwas Aktives und Spielerisches. In diesem Stadtteil halten sich zwar viele Anwohner auf, sie haben jedoch wenig zu sehen. Somit soll mit dem begehbaren Kaleidoskop eine aktive Möglichkeit geschaffen werden, zusammenzukommen, mehr zu sein als aneinander vorbeilaufende Passanten. Das Motto: Geselligkeit begehbar machen.
BILD: H – Alles gut (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT I
Team: Interstellar
Der Ort
Der Bauort befindet sich in der großzügig angelegten Fußgängerzone hinter dem Einkaufszentrum Kaufland.
Die Mission
The Popo – Entwerft eine alternative Realität
Das Ergebnis
Dieser ehemalige Marktplatz soll wieder aktiviert werden. Man möchte von der reinen Wegeverbindung wegkommen und die nichtgenutzten Stellen auf dem Marktplatz wieder aktivieren. Die alten Strukturen sollen so aufgebrochen und neue Bewegungslinien durch die Platzierung der Ruhe- und Sitzmöglichkeiten, vorgeschlagen werden. Die Nutzung der Eckfläche öffnet den Blick wieder ins Tal.
BILD: I – The Popo (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir
BAUORT J
Team: Oompa Lobedas
Der Ort
Auf dem Bauort befindet sich ein defekter Brunnen. Zwischen dem Brunnen und der Hauptverkehrsader des Stadtteils erstreckt sich ein kleiner Platz. Angrenzend eine Treppe, die zu Sport- und Freizeiteinrichtungen führt.
Die Mission
Das Überbleibsel – Erschafft eine Startrampe der Neugierde.
Das Ergebnis
Der Brunnen ist das einzige Relikt aus DDR Zeiten, was von dem ehemals zentralen Bürgerplatz übrig geblieben ist. Der defekte Brunnen und der davor befindliche Platz sind die meiste Zeit ungenutzt. Allerdings besuchen Jugendliche die nahegelegenen Sportanlagen regelmäßig. Das hier entstandene Projekt ermöglicht weiterhin eine Nutzung des Platzes: Die Lobedaer können den Übergroßen Setzkasten als eine „Gartenerweiterung“ ansehen und sind eingeladen, diesen aktiv zu nutzen. Sie können reingehen, die Blumen pflegen oder auch mal ein Buch lesen. Es gibt verschiedene Sitzmöglichkeiten im Innen- und Außenbereich.
BILD: J – The Relic (c) 72 HUA, Foto Mor Arkadir